Wir sind dann mal weg

  • Veröffentlicht am: 16.07.2017

Wir sind dann mal weg: Die (un-)heimliche Artenerosion in Europas Agrarlandschaften.

Am 7. Juli wurde die überarbeitete und erweiterte Studie „Wir sind dann mal weg: Die (un-)heimliche Artenerosion in Europas Agrarlandschaften“ vorgestellt. Eine nennenswerte Besserung ist für die Gesamtheit der Arten nicht in Sicht.

Die Studie zeigt eindrücklich auf, dass es vielfältige Gründe gibt, die der Natur in großem Maße zusetzen und dass vieles, dass einen grünen Eindruck erweckt, längst nicht dem Naturschutz dient. Windenergieanlagen sind ein solches Beispiel: 27.300 Anlagen sorgen jährlich für einen Verlust in Deutschland von 12.000 Greifvögeln und 250.000 Fledermäusen. 60.000 Kilometer Hoch- und Höchstspannungsleitungen fordern einen Tribut von jährlich 1,8 Millionen Brut- und 1 Million Zugvögeln – allein durch Kollisionen. Jäger schießen in Bayern jedes Jahr allein 7.000 Kormorane ohne nennenswerten Effekt auf die dortige Teichwirtschaft, weil es sich mehrheitlich um Zugvögel handelt. Zugvögel werden an der ägyptischen Küste an einem 700 Kilometer langen Zaun vom Himmel gefischt. Doch Grün- und Steinwüsten statt abwechslungsreicher Hausgärten sind Dinge, die jeder selbst sofort ändern könnte.

Moderne Landwirtschaft bleibt Artenkiller Nr. 1

Hauptverursacher über diese beispielhaften Verluste hinaus ist aber die Landwirtschaft, die ihre Äcker als reine Produktionsflächen betrachtet. Das Totalherbizid Glyphosat wird bedenkenlos eingesetzt. Einzelne Blütenpflanzen haben seit den 1950er Jahren über 99 Prozent ihres Bestandes eingebüßt. Die Flächen artenreichen Grünlandes in Norddeutschland sind im selben Zeitraum um 85 Prozent zurückgegangen. Ackerrandstreifen werden den Restbeständen daher keinen dauerhaften Schutz bieten können. In Europa leben heute 421 Millionen Vögel weniger als noch vor 30 Jahre. Neben Vögeln sterben auch Pflanzen- und Insektenarten aus.

„Die moderne Landwirtschaft provoziert eine unheimliche Artenerosion – und die Politik schaut weg. Die Studie belegt, dass der Trend aufgrund geschönter Basisdaten viel heftiger ist, als von EU und Bund behauptet. Neue Forschungsergebnisse zum Insektenschwund, zur Unverträglichkeit ‚moderner‛ Landwirtschaft und artenreicher Natur sowie neue Erkenntnisse zur Gefährlichkeit der Pestizid-Stoffklasse der Neonicotinoide zeigen die Brisanz der Wirkung, die nicht nur Bienen, sondern auch Vögel und sogar Säugetiere bedroht. Die Politik ist gefordert, diese Stoffklasse umgehend und vollständig zu verbieten“, so Studienautor Stephan Börnecke.

Biodiversität und Landwirtschaft in industrieller Form stehen sich unvereinbar gegenüber. Die Ziele, die Biodiversität zu retten werden politisch immer weiter abgeschwächt oder schlicht verschoben. Erreicht werden sie nie. Stattdessen wird mit Tricks eine intakte Natur auf dem Papier dargestellt. Beispiel gefällig? In Hessen ist es möglich, dass sich ein vollständig abgeernteter Wald in einem „guten Zustand“ nach EU-Vorgaben befindet. Keimlinge genügen.

„Der Zustand der biologischen Vielfalt in der Agrarlandschaft ist alarmierend“, sagt Prof. Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz (BfN). „Die Befunde in unserem Agrar-Report belegen, dass es eine Kehrtwende in der Agrarpolitik geben muss. Eine Prämisse dabei ist die konsequente Ausrichtung der Zahlungen an die Landwirtschaft nach dem Grundsatz, öffentliches Geld für öffentliche Leistungen“.

Wenn Arten erst einmal kurz vor dem Aussterben stehen, ist es aufwändig und teuer den Trend umzukehren. Es gibt zwar inzwischen wieder einige Vorzeigearten wie den Kranich oder den Wanderfalken, denen es wieder ganz gut geht, doch bei Insekten fällt es weit schwieriger und ist teilweise unmöglich. Das Beispiel des sehr viel größeren Rebhuhns zeigt, wie teuer die intensive Landwirtschaft den Steuerzahler kommt. Erst werden Flächenprämien ausgeschüttet, um die Exportfähigkeit sicherzustellen und dann müssen die Auswirkungen dieser Subventionspolitik ausgeglichen werden: 731,25 Euro pro Huhn.

Dabei können Nützlinge in der Nähe landwirtschaftlicher Kulturen durchaus Schädlinge in Schach halten – ganz ohne Insektizide wie etwa eine Studie aus der Schweiz zeigt. Der von Getreidehähnchen-Larven verursachte Schaden in Winterweizen ging bei groß anlegten Blühstreifen mit einer speziellen Mischung um 60 Prozent zurück.

Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Fraktion die Grünen/EFA und Mitglied des Agrar- und Umweltausschusses im Europäischen Parlament sowie Auftraggeber der Studie sagte anlässlich der Vorstellung: „Die heute vorgestellten Ergebnisse zeigen deutlich: Europa und Deutschland sind weit davon entfernt, die selbst gesteckten Ziele zum Schutz der biologischen Vielfalt bis zum Jahr 2020 zu erreichen. Den größten Anteil daran trägt eine immer intensiver wirtschaftende Landwirtschaft, die in wachsendem Maße mit Umweltverschmutzung, Artenschwund und Tierleid einhergeht und darüber hinaus die Erwartungen der Verbraucher verfehlt. Die nächste Agrarreform muss sich diesen Forderungen stellen und eine grundsätzliche politische Neuausrichtung mit sich bringen. Die Forderung ‚Öffentliches Geld für öffentliche Leistungen‛ darf sich nicht nur in Worten, sondern muss sich auch in der Subventionspolitik widerspiegeln. Nur so wird es möglich sein, die gesellschaftliche Akzeptanz für den Umbau hin zu einer ökologisch nachhaltigen Landwirtschaft zu sichern, denn eine Trendumkehr im Artenschutz muss dort erreicht werden, wo ihr Verlust verursacht wird.“

Die Studie ist in vollem Umfang frei zugänglich (Open Access).
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