Hohe Abdrift von Pestiziden belastet Umwelt

  • Veröffentlicht am: 21.03.2019

Apfelblüten im Vinschgau werden auch von Honigbienen gerne aufgesucht. Foto: pixmartin/Pixabay, CC0 Creative Commons

Dass Pestizide aus der Landwirtschaft abdriften ist nicht neu. In zurückliegenden Studien wurden angereicherte Pestizidrückstände etwa in umliegenden Naturschutzgebieten gefunden. Doch die unkontrollieret Verbreitung über die Luft ist noch größer als bisher angenommen, Schwachstellen im EU-Zulassungsverfahren groß.

Das Umweltinstitut München hat im vergangenen Jahr Messungen in der Südtiroler Region Vinschgau vorgenommen. Statt sauberer Luft wie in den Prospekten der Touristiker finden sich selbst fernab der Obstplantagen in alpinen Seitentälern noch Pestizide in der Luft. Das knackige Obst aus Europas größter Obstbauregion seinen Tribut von der Umwelt auch noch in großer Entferung.

Über den Untersuchungszeitraum wurden 20 Wirkstoffe nachgewiesen, 14 in einer Probe. Die Ergebnisse zeigen, dass es im Vinschgau von Mitte März bis Ende August eine Dauerbelastung der Luft mit Pestiziden gibt. Es sind immer mehrere verschiedene Wirkstoffe gleichzeitig in der
Luft sind. Dabei verbreiten sich die Wirkstoffe Captan, Chlorpyrifos-methyl, Dithianon, Fluazinam, Imidacloprid und Phosme über mehrere Kilometer.

„Sechs Wirkstoffe haben wir noch auf über 1.600 Höhenmetern in einem Seitental gefunden, mehrere Kilometer von den nächsten Obstplantagen entfernt“, erklärt Karl Bär, Referent für Agrarpolitik beim Umweltinstitut und Leiter des Messprojekts. „Schaut man in die Zulassungsberichte der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde, dann sollte das eigentlich unmöglich sein. Für vier dieser Stoffe kommt sie zu dem Schluss, dass sie nur in vernachlässigbaren Mengen in die Luft übergehen und sich dort schnell zersetzen. Diese Bewertung kann also offensichtlich nicht stimmen.“

Ein Messpunkt befand sich mitten in der Ortschaft Mals, die sich als europaweit erste Gemeinde 2014 in einem aufsehenerregenden Referendum für ein kommunales Pestizidverbot entschieden hat. Nach einem Gerichtsurteil im vergangenen Jahr darf aber auch im Malser Gemeindegebiet vorläufig weiter gespritzt werden. An dem Messpunkt in einem gut geschützten Garten mitten im Ort wurden zwölf verschiedene Wirkstoffe nachgewiesen. Darunter waren auch in hohem Maße gesundheitsgefährdende Stoffe wie Captan oder Thiacloprid.

Zwei weitere Messstandorte befanden sich bei Bio-Betrieben im mittleren Vinschgau. Dort wurden von insgesamt 29 untersuchten Wirkstoffen 20 in der Luft gemessen. Die Belastung ist dabei um ein Vielfaches höher als in Mals. „Unsere Ergebnisse zeigen, wie schwer die Bedingungen für Bio-Betriebe im Umfeld der intensiv bewirtschafteten konventionellen Apfelplantagen sind. Auch die Anwohnerinnen und Anwohner sowie Urlaubsgäste sind in der direkten Umgebung der Plantagen nachweisbar Belastungen ausgesetzt“, kommentiert Karl Bär.

Eine Besonderheit der Untersuchung des Umweltinstituts ist der geringe Abstand zwischen den Probeentnahmen. Dadurch lässt sich der zeitliche Verlauf der Verbreitung der Stoffe durch die Luft nachzeichnen. Ein zentrales Ergebnis ist, dass es eine Dauerbelastung von Mensch und Natur mit Pestiziden gibt. Im Vergleich zur Betrachtung der einzelnen Wirkstoffe besteht im Gesamtbild eine erheblich höhere und über den Saisonverlauf andauernde Belastung und damit ein entsprechend höheres Gefahrenpotenzial. „Der Staat schützt unsere Gesundheit und unsere Umwelt nicht vor der Belastung durch giftige Pestizide. Das Zulassungssystem der EU macht unrealistische Annahmen über deren Verbreitung und ignoriert die Dauerbelastung sowie den so genannten Cocktaileffekt, durch den eine Kombination verschiedener Substanzen gefährlicher sein kann als der jeweilige Einzelwirkstoff“, kritisiert Karl Bär. „Die Regeln, die beim Spritzen beachtet werden müssen, verhindern nicht, dass sich die Mittel in der Luft verbreiten. Und es gibt auch keine systematische Messung der Luftbelastung durch die Behörden. Der einzige Weg, um konsequent zu verhindern, dass unsere Gesundheit und die Umwelt weiter belastet werden, wäre, keine gefährlichen Pestizide mehr einzusetzen.“

Nach Südtirol wird in diesem Jahr nun an rund 200 Orten in Deutschland die Luft auf Pestizidrückstände untersucht.

Südtiroler Landesrat klagt wegen Kritik an hohem Pestizideinsatz [Update: 8. September 2020]

Weil der Autor Alexander Schiebel („Das Wunder von Mals“), indirekt sein Verleger Jacob Radloff und das Umweltinstitut München den massiven Pestizideinsatz in Südtirol öffentlich kritisiert hatten, erstattete der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft Arnold Schuler im Jahr 2017 Strafanzeige wegen übler Nachrede zum Schaden der Südtiroler Landwirtschaft.

Mehr als 1.300 Landwirte aus Südtirol schlossen sich der Anzeige an. Die Staatsanwaltschaft am Landesgericht Bozen hat deshalb Anklage gegen Autor und Filmemacher Alexander Schiebel und Karl Bär, den Agrarexperten im Umweltinstitut München, erhoben.

„Arnold Schuler missbraucht seine politische Position und macht sich zum Handlanger der mächtigen Südtiroler Obstlobby. Der Landesrat und die konventionellen Apfelbauern wollen den übermäßigen Einsatz von Pestiziden in den Monokulturen Südtirols und deren Folgen für Natur und Mensch unter den Teppich kehren“, so Alexander Schiebel. „Menschen, die sich in der Region gegen die massive Verwendung chemisch-synthetischer Pestizide wehren, werden attackiert. Inzwischen herrscht bei vielen von ihnen ein Klima der Angst. Doch wir werden uns nicht mundtot machen lassen, im Gegenteil.“

Anlass der Klage gegen Karl Bär ist die provokative Kampagne „Pestizidtirol“ des Umweltinstituts im Sommer 2017. In deren Rahmen platzierte die Umweltorganisation ein Plakat in München, das eine Tourismus-Marketing-Kampagne für Südtirol ironisch verfremdete. Zusammen mit einer eigenen Website hatte die Kampagne zum Ziel, auf den hohen Pestizideinsatz in der beliebten Urlaubsregion aufmerksam zu machen.

„Wie sich zeigt, hat Südtirol nicht nur ein Pestizidproblem, sondern auch ein Demokratieproblem. Die Anzeigen und Klagen gegen uns entbehren jeder sachlichen Grundlage und haben nur ein Ziel: KritikerInnen des gesundheits- und umweltschädlichen Pestizideinsatzes sollen in Südtirol zum Schweigen gebracht werden. Der Prozess reiht sich ein in eine lange Reihe von haltlosen Klagen gegen AktivistInnen und PublizistInnen in Italien und in ganz Europa. Immer häufiger versuchen Unternehmen oder PolitikerInnen, auf diese Weise kritische Personen in ihrer Arbeit zu behindern und einzuschüchtern“, so Karl Bär.

Karl Bär und Alexander Schiebel werden von Rechtsanwalt Nicola Canestrini vertreten: „Die Wahrheit zu sagen ist und bleibt nach italienischem Recht kein Verbrechen. Sie ist ein grundlegender Bestandteil der Demokratie und eine der mächtigsten Waffen gegen Machtmissbrauch. Es ist ein Alarmsignal für die Rechtsstaatlichkeit, dass man wegen der Ausübung eines so wichtigen Grundrechts angeklagt wird. Wir werden in Bozen stellvertretend für alle UmweltaktivistInnen und JournalistInnen kämpfen, die im öffentlichen Interesse Missstände aufdecken. Und wir werden im Prozess beweisen, dass in Südtirol im Übermaß Pestizide ausgebracht werden und dass diese für Menschen, Tiere und die Umwelt gefährlich sind.“

Die Bozener Staatsanwaltschaft ersuchte während ihrer zweijährigen Ermittlungen auch die Oberstaatsanwaltschaft in München um Rechtshilfe. Diese verweigerte jedoch die Zusammenarbeit – mit Verweis auf die deutsche Rechtslage und das in Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit. Gleichwohl erhob die Staatsanwaltschaft Bozen Anklage.

Landesrat will Anzeige zurückziehen [Update: 19. September 2020]

Laut einer Meldung der Südtiroler Landesverwaltung zieht der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft Arnold Schuler seine Strafanzeigen zurück.

Zum Auftakt im Prozess wegen übler Nachrede war dies jedoch entgegen der Ankündigung nicht geschehen, weil die Vollmachten der Landwirte fehlten, die sich Schulers Anzeige angeschlossen hatten. Der Richter setzte im Verfahren den Klägern eine Frist bis zum 27. November, um alle Anzeigen zurückzunehmen. Der Ausgang ist damit weiterhin offen.

„Es ist ein gutes Zeichen, dass die Kläger heute auch vor dem Richter bestätigt haben, ihre Klage fallen lassen zu wollen. Erstaunlich ist allerdings, dass Landesrat Schuler nun als Nebenkläger auftritt und gemeinsam mit den weiteren Nebenklägern aus der Obstwirtschaft eine Schadenersatzforderung von einem Euro geltend machen will. Damit liegt auf der Hand, dass der wahre Zweck seiner Strafanzeigen von 2017 nicht die Wiedergutmachung eines Schadens war. Er wollte mit seiner Anzeige die Debatte um den schädlichen Einsatz von Pestiziden in Südtirol unterbinden", so Nicola Canestrini.

Auf Antrag der Beklagten hat die Staatsanwaltschaft Bozen die Betriebshefte der mehr als 1.300 Landwirte einsammeln lassen, die sich der Anzeige des Landesrates angeschlossen hatten. Sie enthalten genaue Angabe, welche und wie viel Pestizide jeder einzelne Landwirt im Jahr 2017 auf seinem Acker ausgebracht hatte. Sogar wenn der Prozess eingestellt wird, ist damit ein Zugriff auf die Daten möglich.

Landesrat zieht Anzeige doch nicht zurück [Update: 30. September 2020]

Der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft, Arnold Schuler, hatte vor rund zwei Wochen zum Start des Gerichtsverfahrens wegen übler Nachrede gegen Karl Bär vom Umweltinstitut München in Bozen gegenüber der Presse und dem Gericht erklärt, seine Anzeigen gegen den Buchautor Alexander Schiebel und dessen Verleger Jacob Radloff sowie gegen das Umweltinstitut gemeinsam mit den klagenden Landwirten zurückzuziehen. Darauf gebe er sein „Tiroler Wort“, so Arnold Schuler. In den daraufhin folgenden anwaltlichen Gesprächen stellten die Anwälte Schulers jedoch Bedingungen für die Rücknahme der Anzeigen, die die Beklagten in ihrer freien Meinungsäußerung beschränkt hätten. Für das Umweltinstitut München, Alexander Schiebel und seinen Verlag kam und kommt es nicht infrage, Informationen über das wahre Ausmaß des Pestizideinsatzes in Südtirol zurückzuhalten oder die Kritik an dem Prozess einzustellen. Nachdem klar wurde, dass sich die Beklagten auf keinen „Deal“ einlassen würden, erfolgte nun Schulers Rückzug vom Rückzug aus dem Verfahren.

Karl Bär, Referent für Agrarpolitik im Umweltinstitut München: „Landesrat Schuler wollte uns darauf festnageln, wichtige Daten zum Pestizideinsatz in Südtirol vor der Öffentlichkeit zurückzuhalten. Das zeigt, wie viel Angst der Minister und die Südtiroler Apfellobby davor haben, dass die Wahrheit über den Pestizideinsatz auf den Südtiroler Obst-Plantagen ans Licht kommt. Natürlich kommen wir einer solchen Forderung nicht nach. Es zeigt sich einmal mehr, dass es bei diesem Prozess von Anfang an um nichts anderes ging, als KritikerInnen des Pestizideinsatzes in Südtirol einzuschüchtern. Doch diese Taktik geht nicht auf. Wir werden uns niemals einen Maulkorb verpassen lassen.“

Ermittlungsverfahren teilweise eingestellt [Update: 28. Oktober 2020]

Das Bozener Landesgericht hat heute entschieden, das Ermittlungsverfahren gegen den Geschäftsführer des Münchner oekom verlag, Jacob Radloff, einzustellen und keine Anklage gegen ihn zu erheben. 
Auch die Ermittlungen gegen aktive und ehemalige Vorstände des Umweltinstitut München wurden zu den Akten gelegt. 
 
Die Prozesse gegen den Autor Alexander Schiebel und Agrarreferent Karl Bär vom Umweltinstitut München gehen jedoch weiter.

Weiteres Verfahren eingestellt [Update: 28. Mai 2021]

Der Prozess gegen den Autor Alexander Schiebel wurde vom Landgericht Bozen heute eingestellt.

Seinen Freispruch nahm der Autor mit großer Erleichterung auf: „Wenige Augenblicke nach der Eröffnung des Verfahrens war es auch schon wieder beendet. Der Richter teilte unsere Einschätzung: keine Spur von übler Nachrede. Freispruch. Danke. Auf Wiedersehen. Aus meiner Sicht ein ganz wichtiger Sieg für die Meinungsfreiheit. Und natürlich eine große Erleichterung für mich und meine Familie.“

Die Studie ist in vollem Umfang frei zugänglich (Open Access).
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